Flaniergeschichte #3

Der Tote im Moor
Ein Paludikultur-Hörspielkrimi aus Neustrelitz


Bei der monatlichen nachhaltigen Radtour in Neustrelitz wird eine Leiche entdeckt. War es Mord? Und was haben die Renaturierung von Agrarflächen zu Mooren und der örtliche Vogelschutzverein mit der Sache zu tun?

HANDELNDE PERSONEN:

ERZÄHLER
GUDRUN DAUBE [BÄUERIN, 47 JAHRE]
ANNEMARIE CORDES [TOURISTIN, 14 JAHRE]
FRIEDRICH BAUSCHULTE [TOURIST, 72 JAHRE]
HELLMUT LANGE [TOURGUIDE, 27 JAHRE]
RENÉ DELTGEN (ARBEITER AUF DEM HOF DAUBE, 38 JAHRE]
FERDINAND DUX (KRIMINALOBERKOMMISSAR, 57 JAHRE)
LOUISE FLETCHER [ECO-CRIMES-SPEZIALISTIN, 28 JAHRE]
URSULA NOACK [GERICHTSMEDIZINERIN, 34 JAHRE ALT]


SZENE 01

ERZÄHLER: Neustrelitz. Nur 100 Kilometer nördlich von Berlin entfernt liegt dieses Kleinod malerisch inmitten der Mecklenburgischen Seenplatte. Viel hat sich hier getan in den vergangenen 25 Jahren, seitdem die Stadt zum Vorreiter der ökologischen Transformation in Mecklenburg-Vorpommern wurde. Auf dem neu begrünten Marktplatz tollen Kinder auf dem Wasser-Abenteuerspielplatz, eine Wärmepumpe im Glambecker See nutzt dessen besondere Tiefe als Energiequelle, ein Wasserrundweg durch die Stadt klärt über die besondere Bedeutung des „blauen Elements“ auf. Errungenschaften, die die Neustrelitzer*innen ihrem Besuch von außerhalb gern zeigen. Auf der nachhaltigen Radtour zum Beispiel, die Interessierte einmal monatlich zu den Stätten des Wandels führt. Schlagen wir doch einmal den Kalender auf und schauen, ob wir Glück haben… Tatsächlich! Heute ist es wieder soweit! Aber wir müssen uns ein wenig beeilen, sie sind schon losgefahren. Schnell hinterher, da hinten, bei den Stendlitz Wiesen auf dem Hof von Gudrun Daube, da sind sie…

GUDRUN DAUBE [BÄUERIN, 47 JAHRE]: „… kann mich noch genau erinnern, als die Stendlitz Wiesen noch ein entwässertes Moorgebiet waren und mein Vater hier Flächen mit Getreide bewirtschaftet hat. Ab 2018 ging es durch die starken Hitzewellen und Starkregenereignisse, gefolgt von den Preissteigerungen des Marktes dann aber rapide abwärts mit dieser Form der Landwirtschaft. Ich hatte damals gerade meine Ausbildung zur Landwirtin begonnen und wollte alles anders machen…“

ANNEMARIE CORDES [TOURISTIN, 14 JAHRE, LACHEND]: „Da hast du dich sicher gescheit beliebt gemacht!“ 

DAUBE [AUCH LACHEND]: „Das kannst du aber laut sagen. Gestritten und diskutiert haben wir. Nächtelang. Jahrelang. ‚Deine Ideen reiten uns in Grund und Boden!‘ hat mein Vater gezetert. Ihr müsst wissen, wir sind ein Familienbetrieb in vierter Generation. Meine Urgroßeltern haben den Hof hier damals gegründet… Und als ich dann mit resilienter Landwirtschaft und Paludikultur um die Ecke kam…“

FRIEDRICH BAUSCHULTE [TOURIST, 72 JAHRE]: „Paludi… was?“

DAUBE: „Oh, Entschuldigung. Das Wort ist mir schon so in Fleisch und Blut übergegangen, dass ich gar nicht mehr darüber nachdenke. Paludikultur meint die land- und forstwirtschaftliche Nutzung nasser Moorstandorte. Das gibt es übrigens schon länger. Früher hat man im Moor Röhricht für Reetdächer angebaut. Heute geht es eher darum, Torf und Pflanzen zu kultivieren, um aus deren Biomasse Energie zu gewinnen – oder sie als Bau- und Dämmstoffe einzusetzen. Beim Bau der Tiny-House-Kolonie an der Domjüch sind solche Stoffe zum Beispiel zum Einsatz gekommen, da fahrt ihr heute sicher auch noch vorbei.

HELLMUT LANGE [TOURGUIDE, 27 JAHRE]: Auf jeden Fall!

DAUBE: Naja, auf jeden Fall war das auch eine schwere Geburt mit der resilienten Landwirtschaft. Wer von euch weiß denn zufällig, was das ist?“

CORDES: „Na, die Menschen haben endlich kapiert, dass die Landwirtschaft widerstandsfähiger werden muss. Keine Monokultur-Wälder mehr, sowas. Und dass man auch viel ressourcensparender arbeiten kann und muss. Früher hat man den Boden ja mit Sprinkleranlagen bewässert – und dann ist das meiste Wasser einfach verdunstet und gar nicht im Boden gelandet. Tröpfchenbewässerung macht dagegen viel mehr Sinn: Einfach Löcher in einen Wasserschlauch schneiden und den dann ober- oder unterirdisch verlegen.“

DAUBE: „Da haben wir ja eine richtige Expertin, ganz richtig! Und bei den Paludikulturen – also den landwirtschaftlich genutzten Mooren – sparen wir auch eine Menge Ressourcen. Denkt mal daran, wie viel Wasser so ein klassisch genutzter Acker gebraucht hat. Von menschlicher Aufmerksamkeit und Pflege ganz zu schweigen. Ich muss heutzutage zum Glück viel seltener auf die Felder als mein Vater damals. Und deshalb hab ich auch die Zeit, euch heute hier alles zu zeig…

UNBEKANNTE PERSON (LAUT SCHREIEND, SOUNDEFFEKT: WILHELMSSCHREI): Ahhhhhhhhhhhhhhhhhh!

SPRECHER: Nanu, was war denn das? Dieser fürchterliche Schrei ging einem ja durch Mark und Bein. Und wer kommt da, völlig aufgelöst, angerannt…?

DAUBE: „René, was ist denn los? Du siehst ja aus, als hättest du ein Gespenst gesehen?“

RENÉ DELTGEN (ARBEITER AUF DEM HOF DAUBE, 38 JAHRE] „Frau Daube, ich war gerade auf dem Feld und da,… da ist eine Hand!“

DAUBE: „Jetzt beruhig dich doch… eine Hand?“

DELTGEN: „Ja, da… da guckt eine Hand aus dem Moor!“

DRAMATISCHE MUSIK.

ENDE SZENE 1

SZENE 2

ERZÄHLER: Na, das ist ja eine schöne Bescherung. Eine Hand, die aus dem Moor guckt. Und an der Hand hängt auch noch eine ganze Person, wie sich kurze Zeit später herausstellt. Deswegen schwärmt statt Tourist*innen auf dem Rad nun die Polizei über den Daub’schen Hof, genauer gesagt…

FERDINAND DUX [KRIMINALOBERKOMMISSAR, 57 JAHRE, ENERGISCH]: „Dux, mein Name, Kriminaloberkommissar. Und das hier ist meine Kollegin von der Eco-Crimes-Unit…“

LOUISE FLETCHER [ECO-CRIMES-SPEZIALISTIN, 28 JAHRE, FREUNDLICH, ABER PROFESSIONELL): „Fletcher, angenehm.“

DAUBE (SCHÜTTELT BEIDE HÄNDE): „Angenehm. Also… Natürlich nicht angenehm die ganze Chose, aber da können Sie ja nichts für.“

DUX: „Gut, Frau Daube. Dann zeigen Sie uns doch mal den Fundort. Und während wir hingehen, können Sie ja ein wenig zu den ganzen Umständen erzählen. Ich bin zwar gebürtiger Neustrelitzer, habe aber lange in Berlin gearbeitet. Waren hier nicht früher einmal Wiesen?“

GEHGERÄUSCHE.

DAUBE (IM GEHEN): „Ja, daher auch der Name – Stendlitz Wiesen. Die Stendlitz ist ein zehn Kilometer langes Fließgewässer südöstlich von Neustrelitz. Wann sind Sie denn nach Berlin…?“

DUX: „Ach, das muss so um 2024/2025 gewesen sein…“

DAUBE: „Damals war hier alles noch entwässertes Moorgebiet. Naturfläche für die Menschen nutzbar machen – das hielt man im 20. Jahrhundert ja für eine ganz tolle Idee. Hatte man natürlich die Rechnung nicht mit der Klimakrise gemacht…“

FLETCHER: „Ja, entwässerte Moore sind echte Klimakiller. In gewisser Weise also auch ein Fall für die Mordkommission… (LACHT)

DUX: „Da müssen Sie mir altem Schlachtross jetzt aber auf die Sprünge helfen. Ökologie ist nicht so mein Metier. Fletcher, deswegen habe ich Sie auch dazu geholt…“

FLETCHER: „Moore zählen zu den wichtigsten Ökosystemen dieser Erde und bieten Lebensraum für wichtige Pflanzen, Insekten und Tiere. Vor allem aber können sie ungeheure Mengen CO2 speichern – sie sind die effektivsten Kohlenstoffspeicher aller Landlebensräume. Was sie zu großartigen Klimaschützern macht. Hat man aber lange Zeit völlig unterschätzt…“

DAUBE: „Ja, beziehungsweise wollte man es auch nicht sehen. Die Idee, einmal nutzbar gemachte Flächen wieder unter Wasser zu setzen, hat in der Landwirtschaft damals viele entsetzt, meinen Vater inklusive. Damals galt Ertragsmaximierung als wichtigstes Credo in der Landwirtschaft. Alles wurde dem untergeordnet, was verheerende Folgen für den Boden und das Wasser hatte. Und als es dann Jahre mit heftigen Dürren und heftigen Niederschlägen gab, standen die Landwirt*innen dumm da. In meiner Ausbildung habe ich mich damit auseinandergesetzt, wie wir als Menschen dem Wasser nicht mehr im Weg stehen, indem wir es künstlich umleiten, sondern es da lassen, wo es hinwill beziehungsweise sowieso ist. Und eben dort nutzen. Das geht mit Paludikulturen richtig gut.

DUX: „Paludi… was?“

DAUBE/FLETCHER (GEMEINSAM): Paludikulturen.

DAUBE: „Die land- und forstwirtschaftliche Nutzung nasser Moorstandorte. Irgendwann, als das Wetter immer mehr verrückt gespielt hat, hat es die Politik dann endlich auch kapiert, kurz vor 12 sozusagen.“

DUX: „Sie sprechen vom Nachhaltigkeitsgesetz des Landes Mecklenburg-Vorpommern…“

DAUBE: „Genau. Und von den großen Förderungen der Anfangsjahre. Ohne wäre es nicht gegangen. Das Land bezuschusste damals Pionier-Projekte und Betriebe, die ihr Land – ehemaliges Moorgebiet – wiederbewässerten, im großen Rahmen. Hier in der Region waren das zum Beispiel die moorschonende Stauhaltung in Blankenförde – und wir! So hat sich schließlich auch mein werter Herr Papa überzeugen lassen. Tief in seinem Innersten hatte auch er gespürt, dass es so nicht weitergehen konnte… auch weil die Agrarbetriebe damals immer weniger Geld für ihre Ernten erhielten, da die Großabnehmer die Preise drückten.“

DUX: „Ja, wenn es ans Geld geht, ist plötzlich vieles möglich…“

GEHGERÄUSCHE ENDEN.

URSULA NOACK (GERICHTSMEDIZINERIN, 34 JAHRE, UNTERBRICHT): „Diesem Herren hat das Moor aber kein Glück gebracht.“

DUX: „Frau Noack, einfühlsam wie immer.“

NOACK: „Stimmt doch, aber ich glaube, auf ihre Sherlock-Holmes’sche Ermittlereinfühlsamkeit können wir heute verzichten, schauen Sie mal hier…“

ERZÄHLER: „Und mit diesen Worten drückt die Gerichtsmedizinerin dem Kriminaloberkommissar ein Schild in die Hand, dem man wahrlich ansieht, dass es gerade erst aus dem Moor gezogen wurde. Ganz schmutzig ist es. Aber wenn man ganz genau hinschaut, kann man noch einige Worte darauf erkennen…“

FLETCHER (LIEST WORT FÜR WORT): „Was habt ihr… was habt ihr Brut da ausgebrütet?“

DAUBE: „‘Was habt ihr Brut da ausgebrütet…?‘ Warten Sie mal, da klingelt etwas bei mir… Entschuldigung, dürfte ich vielleicht mal den Toten sehen?“

DUX: „Ich wüsste nicht, was dagegen spricht. Frau Noack, würden Sie bitte die Decke anheben?“

NOACK [GESPIELT MILITÄRISCH]: „Zu Befehl, Herr Kriminaloberkommissar!“

DUX SEUFZT.

DAUBE: „Oh nein, ich hab es doch geahnt!“

DUX, FLETCHER und NOACK gemeinsam: „Was?“

DAUBE: „Das ist – oder war – MANFRED STEFFEN. Manfred war damals Mitglied bei ‚Vogelfrei Neustrelitz‘, dem örtlichen Vogelschutzverein. Ein riesiger Vogelfreund und ebenso riesiger Gegner des Wiederbewässerungsprogramms.“

DUX: „Das verstehe ich nicht. Ich dachte, die Wiederbewässerung der Moore ist gut für die Natur gewesen…“

DAUBE: „Ja, aber manche Arten, die die trockengelegten Wiesen als Lebensraum und Nistplatz nutzten, wurden dadurch unweigerlich vertrieben, zum Beispiel bodenbrütende Vögel. Wir haben an einem Runden Tisch für Gewässer- und Naturschutz lange um einen Kompromiss gestritten und schließlich Ausgleichsflächen für diese Vogelarten geschaffen.“

DUX (LAKONISCH): „Herrn Steffen war mit diesem Kompromiss offensichtlich nicht zufrieden.“

DAUBE: „Nein. Er betonte immer: ‚Was würdet ihr denn sagen, wenn man euch aus eurem Zuhause rauswirft?‘ Kurz nachdem es mit der Wiederbewässerung losgegangen war, hat man ihn noch wochenlang in der Stadt und auch hier in der Umgebung gesehen, immer mit genau diesem Schild.“

DUX (ÜBERLEGT): „Vielleicht war sein andauernder Protest den Befürwortern der Renaturierung ein Dorn im Auge…“

DAUBE: „Aber es waren doch alle Entscheidungen längst unumkehrbar getroffen worden. Ich fürchte eher, er ist bei einem seiner Protestspaziergänge einfach zu weit ins Moor gegangen. Dabei hatten wir alles abgesperrt und überall Warnhinweise aufgestellt…“

NOACK: „Die Theorie deckt sich auch mit meinen bisherigen Erkenntnissen. Nichts an der Leiche weist auf Fremdeinwirkung hin.“

DAUBE: „Und wir haben immer gedacht, Manfred sei aus Frust weggezogen… Mensch, wäre er doch nicht so störrisch gewesen. Ihm hätte sicher gefallen, wie gut sich Neustrelitz dann doch noch gemausert hat…“ 

ENDE

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