Flaniergeschichte #4

Die „Bunte Pfütze“
Wie der Zierker See einen Kulturstrand bekam

In den Zierker See hineinspringen? Was heute noch wie ein Märchen klingt, kann morgen Wirklichkeit sein. Dies ist ein Märchen von übermorgen…

Rotviolett spiegelt sich der Abendhimmel auf dem Wasser des Zierker Sees.

„Als könnte man direkt in den Himmel springen“, murmelt Aleks gedankenversunken.

„In den Zierker See springen? Hätte mir das wer vor 10 Jahren vorgeschlagen, hätte ich dem aber ’nen dicken Bird gezeigt.“ Ruft Hanni und macht genau das. Springt in den roten Sonnenuntergang und taucht für einen Moment komplett unter.

Aleks und Nasrem quietschen – von der Fontäne kalt erwischt – auf: „Eeeeeeyyy!“

„Ach kommt, eure Hot Love kann ne Abkühlung gut vertragen.“ Lacht Hanni und schwimmt weiter durch das malerische Wolkenmeer in Richtung Seemitte. Vor drei Wochen sind Nasrems Eltern nach Neustrelitz gezogen, vor zwei Wochen hat sie Hanni und Aleks hier am Zierker See kennengelernt.

„Grob schön hier, oder?“ Aleks schaut Nasrem tief in die Augen. Nasrem nippt an ihrem alkoholisiertem Blaubeersmoothie: „Bisschen too kitschy, aber gerade noch erträglich.“

„Wir können auch zurück auf die Bank neben dem Wassersportverein.“
Aleks grinst. Auf dieser Bank haben sich die beiden vor einer Woche das erste Mal geküsst. Apropos küssen…

„Hanni hat ja recht! Ist gar nicht so lange her, da war hier ‚nur gucken‘ angesagt.“ Aleks öffnet sich eine Buddel Wasser und tropft zwei Liquid-Alc-Drops hinein.

„Echt jetzt?“ Nasrem guckt skeptisch.

„Klar, wenn du‘s mir nicht glaubst, frag doch das Erklär-Einhorn!“ schlägt Aleks vor.

Und genau das macht Nasrem jetzt auch. Holt ihr Phone aus der Hosentasche und ruft laut: „Einhorn!“ Eine Millisekunde später schwebt ein dreidimensionales Hologramm – ein regenbogenfarbener Einhornkopf – über ihrem Display und rollt mit den Augen. „Du schon wieder? Was willst du denn JETZT wissen?“ Kurz fragt sich Nasrem, ob sie die KI-Persona doch wieder auf „unterwürfig-freundlich“ stellen soll, aber belässt es dabei. „Ich brauch n paar Infos zum Zierker See!“

„Naaaa gut“, erwidert das Holo-Einhorn, räuspert sich und legt los: „Der Zierker See ist heute, im Jahr 2041, nicht nur der place-to-be für romantische und atemberaubende Sonnenuntergänge, sondern ein belebter Bade- und Kulturort und als solcher Leuchtturmprojekt für die Mecklenburgische Seenplatte. Besonderen Anteil daran hat der Kulturstrand „Bunte Pfütze“, eine im Jahr 2038 fertiggestellte Badestelle, die sich zum einem generations- und kulturübergreifenden Treffpunkt entwickelt hat. Einerseits können die Menschen hier alles, was auch an klassischen Badestellen möglich ist: Schwimmen, Sandburgen bauen, Beachvolleyball spielen, Essen, Trinken und Klönen. Hervorzuheben ist allerdings die enge Verzahnung mit kulturellen Angeboten und Trägern aus der Stadt wie beispielsweise der Kachelofenfabrik oder dem Antiquariat. Bei Aqua-Events wie Holokino auf der Seeoberfläche, Strandlesungen unterm Sternenhimmel oder Unterwasserkonzerten können die Menschen wortwörtlich eintauchen in andere Welten.“

„Neustrelitz hat EBEN einen Platz für JEDEN!“ unterbricht Aleks das Einhorn betont theatralisch, den langjährigen Slogan der Stadttouristik nachäffend.

„Und JEDE! War ja klar, dass die Werbetexter mal weder die Hälfte der Bevölkerung vergessen haben“, kommentiert Nasrem.

„WerbetexterINNEN!“ Aleks wirft gespielt empört die Hände in die Höhe.

„Ach, beam dich doch nach…“

„Hääää-ehhhm“, räuspert sich das Holo-Einhorn betont laut. „Dürfte ich jetzt BITTE weiter erklären? Oder kann ich wieder verschwinden?“

Genervte Blicke treffen die etwas zu menschlich geratene KI, aber lauter Protest bleibt aus.

„Sehr gut. Nun, wo waren wir? Ach ja: Möglich wurde dieser Ort durch eine schrittweise Renaturierung des Zierker Sees und eine Rückbesinnung auf die Vergangenheit. Denn tatsächlich gab es bis in die 1970er Jahre hinein schon einmal eine Badestelle am Zierker See, die aufgrund der schwindenden Tiefe und schlechter werdenden Wasserqualität aber aufgegeben wurde. Dass hier letztlich wieder ein Treffpunkt für Menschen aus der Region und Tourist*innen gleichermaßen entstehen konnte, ist  einem inklusiven Gestaltungsprozess zu verdanken, bei dem alle Interessierten ihre Ideen für Aktionen und Bauten entlang des Ufers, auf und im See miteinbringen konnten. So entstand neben der Badestelle und den aus Recyclingmaterial gebauten Strandregenkörben auch ein Wasserspielplatz, der nicht nur ein Ort zum Spielen für Kinder sein soll, sondern alle Menschen zum Experimentieren mit dem Element Wasser einlädt. Mitentwickelt und gestaltet wurde dieser Ort übrigens von Schüler:innen der Neustrelitzer Grundschulen…“

„Klar, weiß ich noch ganz genau!“ Das Einhorn ist sichtlich unglücklich über Aleks Unterbrechung, lässt ihn aber weiter reden: „Am grobsten waren unsere Projektwochen damals…“

„Projektwochen?“ Jetzt ist auch Nasrem hooked.

„Ja, wir haben damals gelernt, wie sich Wasser bewegt und anhand dieser Bewegungen Wasserspiele entwickelt, die den natürlichen Lauf des Wassers zeigen. Aber wie genau das aussehen sollte, da waren unserer Fantasie keine Grenzen gesetzt! Wir konnten die wildesten Ideen aufschreiben, malen und als Modelle bauen. Expert*innen haben sich dann davon inspirieren lassen und unsere Modelle in umsetzbare  Konzepte gegossen, von denen die drei ausgefeilteste Möglichkeiten dann der Stadtvertretung vorgestellt werden.“

„Und dann haben DIE entschieden, welches…?“ Nasrem verschränkt ihre Arme.

„Nee! Gerade nicht. Die Leute hier konnten demokratisch abstimmen und die Idee mit den meisten Stimmen wurde dann umgesetzt.“

„Deine?“

„Ähhh, nee, meine war wohl etwas.. ZU wild für die Leute hier.“

„ZU wild? So kenn ich dich ja noch gar nicht…“
Herausfordernd funkelt es in Nasrems Augen und sofort schießt die Röte in Aleks Gesicht.

„Ähem…also,“ lenkt Aleks schnell ab, „Das tolle an dem Wasserspielplatz ist übrigens, dass die meisten Baumaterialien wiederverwertet wurden. Manches wurde von ortsansässigen Firmen, die meisten Materialien haben wir aber auf dem Müll gefunden!“

„Auf dem Müll?“ Nasrem kann es nicht so ganz glauben.

„Ja, Menschen werfen so viele Dinge weg, aus denen man noch brauchbare Dinge bauen kann. Oder besitzen so viel und nutzen es gar nicht.“

„Apropos besitzen und benutzen, fangt, ihr Lovebirds!” unterbricht eine Stimme Aleks Ausführungen. Hanni! Aber was hat sie Nasrem denn da in den Schoß geworfen?

„Mecklenburger Herzen natürlich! Für die beiden Herzen, die es nicht ins Wasser geschafft haben! Direkt vom schwimmenden Naschomaten im See. Wer hinschwimmt, kriegt die Herzen 20 Prozent günstiger!“

Und schon ist Hanni aus dem Wasser geklettert und hat sich mitten zwischen Aleks und Nasrem gequetscht. „Wasserdicht verpackt, und garantiert wieder verwertbar!“ Dann tippt sie einen Code ein, und die Box öffnet sich mit einer klingelnden Fanfare.

Skeptisch blickt Nasrem in das Innere, während sich Hanni und Aleks den Inhalt schon in ihre Münder stopfen: „Was ist DAS denn?“

„DAS“, wirft das Holo-Einhorn ein, „sind wie schon gesagt ‚Mecklenburger Herzen‘, ein Gebäck, das von der Neustrelitzer Hobbybäckerin Louanne Immentraut zur Eröffnung des Kulturstrandes ins Leben gerufen bzw. in den Ofen geschoben wurde. Mecklenburger Herzen zählen zu den kulinarischen Highlights des Kulturstrandes, weil sie mit echtem Strelizienhonig aus Neustrelitz gefüllt sind. Aufgrund der Erderwärmung fühlen sich Strelitzien mittlerweile nämlich auch in Neustrelitz klimatisch zu Hause.“

„Tja,“ seufzen Hanni, Nasrem und Aleks fast gleichzeitig, während das Einhorn unbekümmert weiter erzählt.

„Zu Anfang verkaufte die junge Dame – damals 21-jährig – die Herzen noch aus einem mobilen Bauchladen. Seit zwei Jahren gibt es aber eine feste Verkaufsstelle am Strand, in der sie direkt frisch gebacken werden. Und vor einem Jahr wurde der schwimmende Naschomat in der Mitte des Sees eröffnet – für alle, die sich die süße Leckerei erst sportlich verdienen wollen.“

„Apropos verdienen…“ knufft Hanni Nasrem und Aleks in die Seite und springt auf. „Die Box ist schon wieder leer gefuttert und ich bin noch hungrig. Auf, auf! Wer zuletzt am Naschomaten ist, muss die nächste Runde bezahlen…“

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